Die Akte
Die Akte landete mit weniger als einem dumpfen Schlag auf Rob Sands Schreibtisch. Obwohl die Untersuchung dieses Falles schon seit zwei Jahren in Bearbeitung ist, war die Akte kaum dicker als einen Zentimeter. Sein Chef, ein stellvertretender Generalstaatsanwalt von Iowa namens Thomas H. Miller, ging in den Ruhestand, nachdem er fast drei Jahrzehnte lang alles von Mord bis Betrug verfolgt hatte. Doch an diesem Fall biss er sich die Zähne aus.
Schon seit langem versuchte er diesen kniffeligen Fall zu lösen. Ohne Erfolg. Nun war Rob Sands an der Reihe. Und er hätte nie gedacht, dass dieser Fall sein Leben nachhaltig beeinflussen würde.
Eine Sackgasse
Sein Boss Thomas H. Miller stellte Rob vor etwa vier Jahre ein und machte ihn zum jüngsten Staatsanwalt in einem Team von neun Anwälten, welches sich besonders schwierigen Fällen in der USA annahm. Da sein Ruhestand näher rückte, gab Miller seine aktiven Fälle an seine Kollegen weiter. Dieser faszinierende Fall hatte mit einem verdächtigen Lottoschein im Wert von 16,5 Millionen US-Dollar zu tun.
Es schien in eine Sackgasse zu laufen. Die Ermittler wussten nicht einmal, ob eine Straftat begangen wurde. Das einzige handfeste Beweisstück war auf einer DVD zu sehen. Dieser Fall steht auf sehr wackeligen Beinen, die sich auf zwei verpixelte Überwachungsclips von einer Tankstelle stützen.
Das Videoband
Rob schob die CD in seinen Laptop und drückte auf Play. Ein Mann betrat einen QuikTrip-Laden direkt an der Interstate 80 in Des Moines. Es war zwei Tage nach Weihnachten. Die Kapuze des schwarzen Sweatshirts des Mannes war über seinen Kopf gezogen und verdeckte sein Gesicht. Unter dem Hoodie schien er eine Baseballmütze zu tragen. Über dem Hoodie trug er eine schwarze Jacke.
Der Mann schnappte sich ein Getränk und zwei Hot Dogs. Auf dem Band ist die tiefe, gedehnte Stimme des Mannes klar zu hören. Sie fiel Rob sofort auf. Rob sog jedes Detail in sich auf. Alles könnte von Bedeutung sein.
„Hot Lotto“-Jackpot
Der Mann zog zwei Zettel aus seiner Tasche. Sie waren Spielscheine für „Hot Lotto“, ein Powerball-ähnliches Lotto-Spiel, das in 14 Bundesstaaten erhältlich ist – darunter auch Washington DC. Ein Spieler wählte fünf Zahlen zwischen 1 und 39 und dann eine sechste Zahl, bekannt als Hot Ball, zwischen 1 und 19. Der Preis für die ersten fünf Zahlen betrug $10.000.
Aber ein viel größerer Preis, ging an denjenigen, der alle sechs Zahlen richtig hatte. Der Rekord des „Hot-Lotto“-Jackpot von fast 20 Millionen US-Dollar wurde 2007 geknackt. Der Jackpot zum Zeitpunkt des Überwachungsvideos kam diesen Rekord schon nahe. Die angegebene Gewinnchance war eins zu 10.939.383.
Nichts Ahnend
Der Kassierer nahm die bereits ausgefüllten Spielscheine des Mannes an. Um 15:24 Uhr ließ der Kassierer die Scheine durch das Lottoterminal laufen. Es war ein ganz normaler Tag. Nichts Ungewöhnliches für die kleine Tankstelle. Ein älterer Mann mit einem Stock hinkte durch die Kühltheke. Ein Bus fuhr vorbei. Der Kassierer übergab sein Wechselgeld.
Draußen zog der Mann seine Kapuze herunter und nahm seine Mütze ab, stieg in seinen SUV und fuhr davon. Selbst nach zwei Jahren war das praktisch alles, was die Ermittler hatten. Rob sah sich das Video immer wieder an und versuchte, jedes kleine Detail aufzugreifen.
Der Anwalt, der alles aufdeckte
Rob war der perfekte Anwalt für diesen Fall. Er schrieb Computercode und leistete technischen Support. Seine Spezialität lag im Bereich „White-Collar“-Kriminalität. Zu seinen jüngsten Fällen gehörten Wertpapierbetrug ebenso wie Diebstahl durch Beamte. Manchmal war Robs moralischer Kompass so stabil, dass er fast konservativ wirkte. Seine Schwäger nannten ihn deswegen auch Baby Jesus.
Er wollte in die Wirtschaftsstrafverfolgung einsteigen, weil sie sich nicht auf Verbrechen der Verzweiflung, sondern auf Verbrechen der Gier konzentrierte. Rob nannte diese „Verbrechen gegen Dankbarkeit“. Das Ticket im Video wurde am 23. Dezember 2010 gekauft. Sechs Tage später wurden die „Hot Lotto“-Gewinnzahlen ausgewählt: 3, 12, 16, 26, 33, 11.
Viele versuchten ihr Glück
Am nächsten Tag gab die Iowa Lotterie bekannt, dass das Gewinner-Los in Des Moines verkauft wurde. Aber einen Monat nach der Ziehung der Zahlen hatte niemand das Ticket vorgelegt. Die Iowa Lotterie hielt eine Pressekonferenz ab. Telefonanrufe gingen ein, wobei Dutzende von Menschen behaupteten, der Gewinner zu sein. Einige sagten, sie hätten das Ticket verloren oder es sei ihnen gestohlen worden.
Aber die Lotteriebeamten hatten entscheidende Beweise, die nicht öffentlich zugänglich waren: die Seriennummer des Gewinnscheins und das Video. Ein Anrufer sagte sogar, sein Freund sei ein regelmäßiger „Hot Lotto“-Spieler, der gerade bei einem Autounfall gestorben sei. Sie versuchten es wirklich mit allen Mitteln.
Es wird weiter nach dem Gewinner gesucht
Drei Monate nach Bekanntgabe des Gewinnloses gab die Lotterie eine weitere öffentliche Erinnerung heraus. Eine weitere folgte nach sechs Monaten und noch einmal nach neun Monaten, wobei jedes Mal gewarnt wurde, dass die Gewinner ein Jahr Zeit hatten, um ihr Geld einzufordern.
Sogar die Vizepräsidentin der Iowa Lotterie war davon überzeugt, dass es nie in Anspruch genommen werden würde. Seit 1999 hatte sie mit rund 200 Leuten zu tun, die mehr als eine Million Dollar gewonnen hatten. Sie hatte noch nie erlebt, dass ein Millionen-Dollar-Gewinnschein nicht beansprucht wurde. Doch dann kam der 9te November 2011.
Dinge kommen ins Rollen
Auf einmal kam Schwung in die mysteriöse Geschichte. Ein Mann namens Philip Johnston, ein Anwalt aus Quebec, rief die Iowa Lotterie an und gab der Vizepräsidentin die richtige 15-stellige Seriennummer auf dem gewinnenden „Hot Lotto“-Los. Auf die Frage nach seinem Alter und was er anhatte, als er das Ticket kaufte, beschrieb er ein Sakko und eine graue Flanell-Anzughose.
Diese stimmten allerdings nicht mit dem QuikTrip-Video überein. Schließlich gab er zu, dass er einem Kunden helfe, das Ticket zu beanspruchen, damit der Kunde nicht identifiziert werden könne. Doch das verstieß gegen die Regeln der Iowa-Lotterie. War die Anonymität des Gewinners 16,5 Millionen Dollar wert?
In letzter Sekunde eingelöst
Auf den Tag genau, ein Jahr nachdem die Gewinnzahlen gezogen wurden, und weniger als zwei Stunden vor der 16 Uhr-Frist, stolzierten einige hochkarätige Anwälte mit dem Gewinnlos in das Hauptquartier der Iowa Lotterie. Sie forderten das Ticket im Namen eines Trusts auszubezahlen. Später erfuhr die Iowa Lotterie, dass der Begünstigte des Trusts ein Unternehmen in Belize war.
Und das ist noch nicht genug. Der Präsident der Firma ist der bereits bekannte Philip Johnston. Der Geschäftsführer der Iowa Lotterie Terry Rich wurde stutzig und eröffneten einen Fall bei der Iowa Division of Criminal Investigation. Kann es sich hierbei wirklich um einen riesigen Betrug handeln?
Ein Wirrwarr an Anhaltspunkten
In einem Interview in Quebec City sagte Johnston den Ermittlern, dass er von einem Anwalt aus Houston, namens Robert Sonfield, wegen des Tickets kontaktiert worden sei. Johnston wies die Ermittler auch auf einen Geschäftsmann aus Sugar Land, Texas, namens Robert Rhodes hin.
Doch auch eine Reise nach Texas erwies sich als erfolglos. Als die Akte 2014 auf dem Schreibtisch von Rob Sand landete, hatte der Fall in seinem Büro bereits Kultstatus erlangt. Mit etwas Galgenhumor wurde gewitzelt, dass sich es sich als Mordfall herausstellen würde. Doch keine dieser Annahmen kamen der Wahrheit nahe.
Letzte Chance
Alles, was Rob hatte, war ein verpixeltes Video von einem Mann, der ein Lotto-Los im Wert von 16,5 Millionen US-Dollar kaufte. Die Anwälte hatten keine andere Wahl mehr. Sie mussten das Video veröffentlichen. Am 9. Oktober 2014, fast 46 Monate nachdem der Mann im Hoodie die QuikTrip-Tankstelle verlassen hatte, veröffentlichte die Iowa Division of Criminal Investigation eine Pressemitteilung, die einen Link zu einem 74-Sekunden-Clip des Überwachungsmaterials enthielt.
Ein paar Tage später öffnete in Maine ein Mitarbeiter der Maine Lotterie eine E-Mail von seinem Chef. Der Mitarbeiter erkannte die markante Stimme im Video. Dieser Mann verbrachte eine Woche bei ihm im Büro, um ein Sicherheitsaudit durchzuführen.
Ein weiterer Anhaltspunkt
Das Video zu veröffentlichen führte zu vielen Anhaltspunkten. In Des Moines erkannte ein Web-Developer der Iowa Lotterie die Stimme. Sie gehörte einem Mann, mit dem sie jahrelang zusammengearbeitet hatte. Es gab keinen Zweifel. Die bärenhafte Gestalt war unverwechselbar für ihn. Und er war nicht der Einzige.
Eine Empfangsdame in einem anderen Lotteriebüro gab ihrer Ziehungsmanagerin den Hörer und sagte sie solle einfach zuhören, während sie das Video abspielte. Diese war eher verwirrt, antwortete jedoch mit erhofften Information, dass auch sie diese Stimme unverkennbar erkannte: „Warum höre ich mir ein Video oder eine Kassette von Eddie an?“
Eddie Tipton
Mit Eddie meinte sie Eddie Tipton, den Informationssicherheitsdirektor der Multi-State Lottery Association. Die Organisation ist für Lotterien in 33 Bundesstaaten zuständig, sowie den District of Columbia, Puerto Rico und die amerikanischen Jungferninseln. Es hatte seinen Sitz in den Vororten von Des Moines. Eddie Tipton war im Büro der „Multi-State Lottery Association“ ein freundlicher und immer willkommener Charakter.
Er wuchs im ländlichen Texas auf, und war schon als Kind von der Technik begeistert. Er hatte eine paranoide Ader und bezahlte nur selten mit Kreditkarten. So machte er sich ständig Sorgen, dass Leute seine Identität ausfindig machen könnten. Aber er wollte immer, dass Leute ihn mochten.
Die Villa von Eddie Tipton
Zwischen den Maisfeldern südlich von Des Moines baute sich Eddie ein 4.800 m2 großes Haus für satte 540.000 US-Dollar. Das Haus hatte fünf Schlafzimmer und einen riesigen Keller, darunter ein Billardtisch, ein Shuffleboard-Tisch, ein Heimkino mit Sofas. Selbst Platz für einen Basketballplatz gab es. Mit einem Jahresgehalt von 100.000 Dollar fragten sich seine Freunde, wie es sich leisten konnte.
Eddie antworte stets er sei einsam und wolle eine Familie, also schüttete er seine Ersparnisse in das Haus, das er irgendwann mit Frau und Kindern füllen wollte. Aber der richtige Partner kam nie. Stattdessen veranstaltete er Weihnachtsfeiern im Büro und lud Freunde ein.
Hart am Arbeiten
Eddie war alleinstehend und lebte für seine Arbeit. Alles in seinem Leben drehte sich um seinen Job. Die Multi-State Lottery Association war eine kleine Organisation, und Eddie wurde an allen Ecken und Enden eingesetzt. Er schrieb Software und arbeitete an Webseiten. Er kümmerte sich um Netzwerksicherheit und Firewalls.
Und er überprüfte die Sicherheit von Lotto-Spielen in fast drei Dutzend Bundesstaaten. Er legte 60-Stunden-Wochen ein und blieb bis 23 Uhr im Büro. Er arbeitete hart für sein Geld. Doch hatte er ein dunkles Geheimnis? Wollte er sich an dem System rächen - oder an der Firma, an der er so lange beschäftigt war?
Die unglaubliche Wahrheit
Als Ed Stefan, der Chief Security Officer der Multi-State Lottery Association, das Überwachungsvideo sah, wollte er es nicht glauben. Das war nicht nur irgendein Kollege. Das war Eddie Tipton - ein Mann, den er seit mehr als zwei Jahrzehnten kannte. Ein Mann, mit dem er an der University of Houston studiert hatte.
Stefan lernte sogar seine zukünftige Frau kennen, als er und Eddie auf einer Wohltätigkeitsradtour in Texas waren. Eddie war sogar auf seiner Hochzeit gewesen. Stefan verhalf Eddie zu einem Job. Sie kauften zusammen etwa 50 Hektar Land und bauten angrenzende Häuser. Sie beantragten sogar ein gemeinsames Patent für computergestützte Lotteriesicherheit. Konnte das wirklich wahr sein?
Die böse Vorahnung
Stefan sah sich das Tankstellen-Video zum ersten Mal an, als ihm ein ehemaliger Kollege den Link schickte, welcher von der Staatsanwaltschaft freigegebene wurde. Das kann einfach nicht Eddie sein, dachte er. Dann: Das ist Eddie. Warum trägt er einen Hoodie? Er hatte Eddie noch nie in einem Hoodie gesehen. Stefan wurde schlecht.
Sein Freund, ein Mann mit fundierten Kenntnissen über die Computer, die die Lotterie ausführten, kaufte auf dem Bildschirm ein Los im Wert von 16,5 Millionen US-Dollar. Später erzählte Stefan den Ermittlern, dass er sich betrogen fühle. Er hätte genauso gut herausfinden können, dass seine Mutter eine Axtmörderin wäre. Er wäre nicht weniger geschockt gewesen.
Getäuschte Freunde
Jason Maher war ein weiterer Freund und Kollege, der nicht glauben wollte, was er in dem Video sah. Er und Eddie hatten sich im Taki kennengelernt, einem japanischen Restaurant außerhalb von Des Moines. Die lebenslangen Computerliebhaber und Gamer verstehen sich gut. Eddie trat Mahers Gaming-Clan bei und verbrachte Stunden damit, das Multiplayer-Online-Spiel „World of Tanks“ zu spielen.
Eddie schlug Maher vor, sich bei der Lotteriegesellschaft als Netzwerkingenieur zu bewerben. Maher bezeichnete Eddie als ein Mann mit einem Herzen aus Gold. Als Maher das Video sah und die vertraute tiefe Stimme hörte, tat er, was ein Computerfreak tut, und hat die Tonspur analysiert. Das konnte unmöglich Eddie sein!
Eigene Recherche
Mithilfe einer Audiosoftware entfernte er weißes Rauschen und isolierte die Stimme. Dann nahm er Filmmaterial von Überwachungskameras in seinem Haus – Eddie war vor einiger Zeit zu Besuch gewesen – und verglich die Stimmen. Es gab keinen Zweifel, die Schallwellen waren die gleichen. Am nächsten Tag ging er zur besagten QuikTrip-Tankstelle, wo das Ticket gekauft wurde und maß die Größe der Fliesen auf dem Boden, die Höhe der Regale, den Abstand zwischen Tür und der Kasse.
Er nutzte die Ergebnisse, um die Hand – und Fußgröße, ebenso wie die Größe der Statur des Mannes im Video zu berechnen. Er wollte der FBI sagen, dass es sich um gar keinen Fall um Eddie handeln konnte.
Die erste Verbindung kommt zustande
Doch all die Arbeit wies genau auf seinen großen Freund hin. Somit statteten die Ermittler im November 2014 Eddie einen Besuch ab. Sie fragten ihn, wen er in Houston kannte. Er berichtete von seiner Familie – Mutter, Schwester und Brüdern, darunter auch Friedensrichter Tommy.
Mit keinem Wort erwähnte er Robert Rhodes, den Mann, der das Ticket in Höhe von 16,5 Millionen US-Dollar ursprünglich an einen Anwalt in Quebec weitergegeben hatte. Durch Eddies LinkedIn-Profil fanden die Ermittler heraus, dass er sechs Jahre lang bei Systems Evolution gearbeitet hatte. Das gleiche Softwareunternehmen in Texas, in welchem Robert Rhodes arbeitete. Tatsächlich waren die beiden beste Freunde und machten zusammen Urlaub.
Festgenommen und angeklagt
Eddie wurde schließlich im Januar 2015 festgenommen und wegen Betrugs in zwei Fällen angeklagt. Ein halbes Jahr später - an einem heißen, stickigen Julimorgen - stand Rob Sand vor einer Jury im Gerichtsgebäude von Polk County. „Dies ist eine klassische Geschichte über einen Insider-Job“, begann er.
„Ein Mann, der aufgrund seiner Anstellung weder Lotto spielen noch gewinnen darf, kauft einen Lottoschein, gewinnt und gibt den Lottoschein an Freunde weiter, um ihn von jemandem abzuholen, der nicht mit ihm verbunden ist.“ Die Beweislage war dünn, doch es gab genug Leute, die ihn anhand des Videos zu identifizieren glaubten.
Theorien der Vorgehensweise
Jason Maher, Eddies Gaming-Buddy, berichtete von Eddies Interesse an Rootkits. Das sind Schadsoftware, die per Flash-Laufwerk installiert werden kann, um die Kontrolle über einen Computer zu übernehmen, bis er sich später selbst löscht. Der Anwalt Rob Sand nahm an, dass Eddie es trotz der Anwesenheit zweier Kollegen geschafft hatte, einen USB-Stick in einen der beiden Computer einzustecken, die die Gewinnzahlen auswählten.
Eddies Verteidiger Dean Stowers nannte dies die „Mission: Impossible“-Theorie. Schließlich klang diese tatsächlich wie ein aus einem Drehbuch entsprungen. Er endete seine Argumentation mit Albert Einsteins Zitat: „Logik bringt dich von A nach B. Vorstellungskraft bringt dich überall hin.“
Andere Theorien
Rob nannte das lediglich ein Ablenkungsmanöver und forderte die Jury auf, sich auf die vielen Möglichkeiten zu konzentrieren, wie Eddie die Lotterie hätte überlisten können. Er schrieb den Code. Er hatte Zugang zu den Zufallszahlengeneratoren, bevor sie in andere Staaten verfrachtet wurden. „Man muss nicht die genaue Technologie verstehen, um Eddie zu verurteilen“, argumentierte Rob, „Sie müssen nur den fast unmöglichen Zufall erkennen, dass der Sicherheitschef der Lotterie einen Gewinnschein kauft und dieser an seinen besten Freund weitergibt.
Die Staatsanwaltschaft musste lediglich beweisen, dass Eddie als Mitarbeiter der Multi-State Lottery Association versucht hat, illegal Lottoscheine zu kaufen und den Gewinn mit betrügerischen Mitteln zu beanspruchen.
Schuldspruch
Die Jury sprach Eddie Tipton am 20. Juli 2015 für schuldig. Er wurde zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt und er wollte Berufung einlegen. Der Oberste Gerichtshof des Bundesstaates wies seine Verurteilung später aufgrund einer Anklage wegen Manipulation der Lotterieausrüstung zurück und der Fall wurde an das Bezirksgericht zurückverwiesen. Jedoch war sich Rob klar, dass Wirtschaftskriminelle normalerweise nicht gleich beim ersten Versuch erwischt wurden.
Die Tatsache, dass Eddies Anwalt ein 90-tägiges beschleunigtes Verfahren gefordert hatte machte Rob misstrauisch. Es ist ein ungewöhnliches Manöver, das die Zeit der Staatsanwaltschaft für die Ermittlungen verkürzte. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass weitere betrügerische Lotto-Lose im Umlauf waren.
Die Antwort liegt in der Vergangenheit
Der Fall war fürs Erste erledigt. Bis eines Morgens Rob einen Anruf aus Texas erhielt, der ihn darauf aufmerksam machte, dass Eddies Bruder vor guten 10 Jahren ebenfalls im Lotto gewonnen hatte. Daraufhin machte Rob den damaligen zuständigen FBI-Agenten ausfindig. Richard Renninsons Telefon klingelte beim F.B.I. Büro in Texas City, einer Hafenstadt am Ufer der Galveston Bay.
Richard konnte sich wage an einen Fall erinnern, der ihm im Gedächtnis geblieben ist. Er nannte ihn seinen „Big Foot“-Fall, in dem es auch um einen Haufen Geld ging, jedoch aufgrund fehlender Beweise zu nichts führte.
Eine dubiose Anfrage
Richard berichtete, dass ein Mann namens Tom Bargas sich Anfang 2006 mit einer verdächtigen Geschichte an die örtlichen Strafverfolgungsbehörden gewandt hatte. Bargas besaß 44 Feuerwerksstände in Texas. Zweimal im Jahr – nach dem 4. Juli und nach Neujahr – musste er mit enormen Bargeldbeträgen umgehen, mehr als eine halbe Million Dollar auf einmal.
Als er einen Anruf eines Friedensrichters erhielt, der seine halben Millionen mit ihm tauschen wollte, wurde er stutzig und wandte sich an die Polizei. Der Austausch von 100.000 Dollar ging vonstatten, während die FBI die Übergabe überwachte. Da konnte es doch nicht mit rechten Dingen zugehen?!
Der Big-Foot-Fall
Doch als die FBI die eingetauschten Noten auswerteten, und die Seriennummern abglichen, wurde nichts Besonderes festgestellt. Als Richard sich den Mann direkt vorknöpfen wollte, wurde ihm mitgeteilt, dass er sich im Krankenhaus befand. Er sei auf der Big-Foot-Jagt gewesen, und sei von in die Tiefe gestürzt. Mit gebrochenen Beinen, erzählte er dem FBI-Agenten, dass er im Lotto gewonnen habe, und das Vermögen von seiner Frau verheimlichen wollte.
Selbst nach der Überprüfung schienen alle Angaben korrekt zu sein. Und so wurde der Fall zu den Akten gelegt. Wenn sie nur wüssten, über was sie da tatsächlich gestolpert sind.
Die Lotto-Gewinner eines ganzen Jahrzehnts
Die Ermittler sammelten die Informationen von allen Gewinnern der letzten 10 Jahre. Und zwar von Lotterien im ganzen Land, die mit der Multi-State Lottery Association in Verbindung standen. Sie luden Daten von mehr als 45.000 Gewinntickets in Microsoft Excel-Tabellen und suchten nach Verbindungen zu Eddie Tipton. Sie überprüften Eddies Facebook-Freunde, erstellten Telefonaufzeichnungen und suchten nach Übereinstimmungen mit der Tabelle.
Sie wussten, dass es da irgendwo einen Zusammenhang gab, und sie nur die richtigen Verbindungen machen mussten. Sie arbeiteten unermüdlich und ihre harte Arbeit hat sich bezahlt gemacht. Und sie haben schließlich den Jackpot knacken können.
Robert Rhodes gefunden
Auch der berüchtigte Robert Rhodes konnte sich nicht ewig verstecken. Im September 2015 erfuhren die Anwälte, dass ein Mann aus Texas namens Robert Rhodes in 2008 eine Auszahlung von 783.257.72 US-Dollar beim „Very Own Megabucks“-Game in Wisconsin gewann. Diese Ziehung fand am 29. Dezember 2007 statt – am selben Tag, an dem drei Jahre später die Gewinnzahlen für Eddies 16,5-Millionen-Dollar-Ticket in Iowa gezogen wurden.
Dank ihrer sorgfältigen Recherche fanden sie außerdem heraus, dass Rhodes zu Eddies besten Freunden gehörte. Es war ein weiterer Hit, der sie näher an die Wahrheit brachte.
Ein weiterer Fund
Eines Abends über die Feiertage war Rob im Haus seiner Eltern und arbeitete an seinem Laptop, durchforstete Akten und benutzte immer wieder Suchbefehle auf seinem Computer. Er bemerkte, dass ein Kyle Conn aus Hemphill, Texas, vor einigen Jahren einen Jackpot von $644.478 in der Oklahoma Lotterie gewonnen hatte.
Eddies Bruder, Tommy Tipton, hatte drei Facebook-Freunde namens Conn. Rob bekam eine Liste möglicher Telefonnummern für einen Kyle Conn und verglich diese mit Tommy Tiptons Handyaufzeichnungen. Und schon wieder ist er einen Schritt weitergekommen. Hatte er endlich handfeste Beweise gefunden?
Alles deutet in eine Richtung
Die Ermittler stellten fest, dass am 23. Dezember 2010 zwei gewinnende Lotto-Tickets aus Kansas für jeweils 15.402 US-Dollar gekauft wurden – am selben Tag, an dem Eddie das Iowa-Ticket gekauft hatte. Und am selben Tag, an dem Handy-Aufzeichnungen zeigten, dass er auf dem Weg nach Texas für die Feiertage durch Kansas fuhr.
Einer der Gewinnscheine wurde von einem Texaner namens Christopher McCoulskey beansprucht, der andere von einer Frau aus Iowa namens Amy Warrick. Beide stellten sich als Freunde von Eddie Tipton heraus. Amy Warrick sagte, sie sei mit Eddie ausgegangen, wurden jedoch Freunde. Er bot ihr ein Lottoschein an, da er keinen Gewinn beanspruchen durfte.
Der ehrliche Betrüger
Selbst Rob Sand bezeichnet Eddie als einen ehrlichen Betrüger. All diesen Leuten werden Tausende von Dollar angeboten, weil sie etwas tun, das ein bisschen hinterhältig, aber nicht illegal ist. Die Ermittler in Iowa hatten mittlerweile sechs Tickets, von denen sie dachten, dass sie Teil eines größeren Betrugs waren.
Aber eine Frage blieb bestehen: Wie hat es funktioniert? Ermittler in Wisconsin fanden heraus, dass sie noch immer die Computer mit Zufallsgenerator für den Jackpot von 2007 im Lager hatten. Im Gegensatz zu Iowas Computern wurden die Festplatten nicht formatiert. Ihre Software war die gleiche wie an dem Tag, an dem Robert Rhodes 783.257,72 $ gewann.
Das Rätsel gelöst
Der erdrückende Beweis wurde schließlich von dem stellvertretenden Generalstaatsanwalt in Wisconsin geliefert. Am 7. Januar 2016 fand Rob Sand eine E-Mail von ihm in seinem Postfach, welche einen interessanten Anhang besaß. Darin standen 21 Zeilen „Pseudocode“, welcher auch in Eddies Code verwendet wurde. Sie zeigten einen Teil von Eddies bösartigem Computercode.
Der Code war klein genug, um die Größe der Datei nicht radikal zu ändern, was Verdacht erregt hätte. Tatsächlich war der Code nicht mal versteckt. Sie mussten nur wissen, wonach Sie zu suchen hatten. Mit einem Mal war alles glasklar.
Der Beweis führt zum Geständnis
Eddies Programm hieß QVRNG.dll: Quantum Vision Random Number Generator. Laut Eddies aussagen, wollte er nicht böses. Er war nur ein Computer-Nerd, der das System zu knacken versuchte. Es war nie seine Absicht, einen kompletten Ticketbetrug zu starten. So hat er seinen Freunden oder Familienmitgliedern Tickets geschenkt.
In dem Plädoyer-Deal bestand Rob Sand darauf, dass Eddie offenlegte, wie er die Lotterie betrügen konnte, um der Lotterieindustrie zu helfen ihre Sicherheit zu verbessern. Falls Eddie lügen sollte – oder später ein weiteres betrügerisches Ticket gefunden werden sollte – würde der Deal annulliert und Eddie müsste sich weiteren Auflagen stellen.
Die Idee
Vor mehr als 10 Jahren lief Eddie einen Buchhalter der Organisation bei der Multi-State Lottery Association über den Weg. Sie scherzten gerne und nahmen sich gegenseitig auf die Schippe. Im Scherz fragte der Buchhalter, ob er schon seine eigenen Zahlen eingegeben hatte. Nach kurzer Verwirrung erklärte er: „Da Sie die Software geschrieben haben, können Sie an jedem beliebigen Tag auch die Zahlen festlegen.“ Sein Interesse wurde geweckt.
Wäre das wirklich möglich? Wie sich herausstellte war es ein einfacher Code, der sogar teilweise aus einer Internetquelle kopiert wurde. Er war nur der einzige Mann, der für die Informationssicherheit von drei Dutzend US-amerikanische Lotterien verantwortlich war.
Die technischen Details
Eddies zusätzliche Codezeilen überprüften zuerst, ob die kommenden Lotterieziehungen die genauen Richtlinien erfüllten. Es musste an einem Mittwoch- oder Samstagabend sein und an einem von drei Daten in einem Nicht-Schaltjahr: dem 147. Tag des Jahres (27. Mai), dem 327. Tag (23. November) oder dem 363. Tag (29. Dezember). Die Ermittler stellten fest, dass diese Daten auf Feiertage – Memorial Day, Thanksgiving und Weihnachten – fielen.
Zu dieser Zeit war Eddie oft im Urlaub. Wenn diese Kriterien erfüllt waren, wurde der Zufallszahlengenerator auf eine andere Spur umgeleitet. Stattdessen wurde der Algorithmus einer vorbestimmten Startnummer verwenden, welche die Möglichkeiten, die richtigen Zahlen vorherzubestimmen, um einiges steigen ließ.
Die Chancen sind markant gestiegen
Eddie wusste also, was sonst niemand wusste: Bei der Iowa Hot Lotto Ziehung am 29. Dezember 2010 gab es nicht wirklich 10.939.383 mögliche Gewinnzahlen – sondern nur ein paar Hundert. Für die erste Lotterie, die er manipulierte, die Ziehung vom 23. November 2005 in Colorado, schrieb Eddie jeden möglichen Satz von Gewinnzahlen auf einen gelben Notizblock, welchen er seinem Bruder reichte.
Er sagte ihm, er müsse all diese Kombinationen spielen, und eine davon wird ihm den Sieg garantieren. Sein Bruder war zu dem Zeitpunkt auf dem Weg zu einer Bigfoot-Jagd, stimmte jedoch zu.
Eddie Tipton als Robin Hood
Eddie stimmte einer Plädoyer-Vereinbarung zu, welche es seinem Bruder erlaubte, nur zu 75 Tagen verurteilt zu werden. Bei seiner Verurteilung stellte sich Eddie sehr großzügig dar. Er war eine Art Robin Hood, der die Lotterie betrug, um Bedürftigen zu helfen. Er nannte seinen Bruder, der fünf Töchter hatte, oder seinen Freund, der sich gerade verlobt hatte. "Ich habe das Geld nicht wirklich gebraucht", sagte Eddie.
Er sah es nicht als illegal an. Er hatte lediglich eine Lücke im Lotteriesystem ausgenutzt. Sein Anwalt setzte das, was er tat, mit dem Kartenzählen in einem Casino gleich. Eddie raubte das Casino nicht mit vorgehaltener Waffe aus.
Abgeführt
Als der Fall verhandelt wurde, hatte Eddie Freunden gestanden, dass er von Schuldgefühlen geplagt wurde. An einem anderen Punkt während des Verfahrens streckte er dem Rechtsanwalt Rob Sand seine Hand entgegen. Rob nahm den Händedruck als Zeichen des Respekts entgegen.
Eddie glaubte das System überlistet zu können, aber Rob hat ihn zur Rechenschaft ziehen können. Wie versprochen legte Eddie ein volles Geständnis ab. Er würde er sich in die Clarinda Correctional Facility im Süden von Iowa begeben, wo er sich heute unter der Nummer 6832975 aufhält. Über seinen Anwalt lehnt er selbst heute noch jegliche Interviews ab.
Schaden und Urteilsspruch
Der Richter verurteilte Eddie Tipton zu maximal 25 Jahren Gefängnis. Seine Rückerstattungszahlungen an die verschiedenen staatlichen Lotterien beliefen sich auf 2,2 Millionen US-Dollar. Dabei behielt Eddie, laut seinem Anwalt, nur rund 350.000 US-Dollar für sich. Der Rest ging an diejenigen, die die Tickets beansprucht haben.
Die Staatsanwälte glaubten das nicht und verwiesen auf Eddies massives Haus, sowie auf die Tatsache, dass Eddie und sein Bruder elf Grundstücke entweder gemeinsam oder einzeln in Fayette County, Texas, besaßen. In Iowa kann ein 25-jähriges Urteil bedeuten, schon viel früher freigelassen zu werden. Rob Sand erwartet, dass Eddie Tipton innerhalb von sieben Jahren auf Bewährung entlassen wird.